Nr. 299: Was will uns der Dichter sagen?

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

heute wieder mal ein Auszug aus meinem 1000-Strophen-Epos „Der Dichter spricht“. Er spiegelt meine Schülersituation im Deutschunterricht am Beispiel einer Interpretationsübung von Goethes „Erlkönig“ wider. Vielleicht haben Sie ja ähnliches in Ihrer Schulkarriere erlebt.

 

Warum ritt das Paar allein?

 

„Was will uns der Dichter sagen?“

So die wichtigste der Fragen.

„Wie, das sagt uns Rainer jetzt,

hieß das Pferd, das da gehetzt?

 

Und der Knab´ in Vaters Arm!

Umschwärmte ihn ein Mückenschwarm?

Oder sind es Geister, die da summten,

rätselhafte Lieder brummten?

 

Sagt ihr Schüler mir geschwind,

warum ächzte so das Kind?

Angesichts des Wetters bräuchte

der Vater eine Nebelleuchte.

 

Nichts davon war angebracht,

an dem Pferd zu dunkler Nacht.

Der Vater gehört angeklagt.

Hat hier unser TÜV versagt?

 

Warum ritt das Paar allein

in den tiefen Wald hinein?

Und die Töchter, die da tanzen,

waren´s Jungfrau´n aus Romanzen?

 

Waren´s Goethes Visionen,

die in finster´n Wälder wohnen?

Sliepen, weißt du´s oder weißt Du´s nicht?

Ich ahn´ es schon, du Geisteswicht.“

 

Längst verdorrt ist Dichterliebe.

Längst hinfort die zarten Triebe,

die sich in der Seele regten,

bevor die Lehrer weg sie fegten.

 

Dennoch bleib ich Optimist,

was der Zweck der Übung ist,

euch die Kunst der Poesie

nahzubringen, wie noch nie.

___________________________________________________

 

Ich habe gerade noch die Kurve gekriegt. Die Liebe zum Gedicht wurde nicht nachhaltig beschädigt. Hoffentlich erging es Ihnen ebenso, das wünscht Ihr Dichterfreund

 

Rainer Sliepen