Entführung in die barocke Opernwelt

 

                         Blutvolles Musikspektakel im Lessingtheater

Serse (Maayan Licht) inspiziert seinen Hofstaat

 

Wolfenbüttel, 17.04 23          von Rainer Sliepen

Der Perserkönig als gottgleiche Majestät

Das Detmolder Ensemble auf der Bühne des Lessingtheaters

             Fotos Landestheater Detmold


 

Die Oper war und ist eine anachronistische Kunstgattung. Es wird gesungen, statt gesprochen. Die Künstlichkeit der Tonfindung streift nicht selten die Komik. Die Musik übertönt die Wortverständlichkeit. Das Handlungstempo wird verzögert bis zum Stillstand oder mit wahnwitzigem Tempo aufgeladen. Hanebüchen sind die Textbücher. Und dann ein weiteres, das entscheidende Paradoxon: Die Oper lebt. Trotz alledem. Wenn auf der Bühne geheimnisvoll alle Teile ineinandergreifen, wie bei einem komplizierten Uhrwerk, dann entsteht die Illusion. Es agieren Menschen mit Gefühlen, mit Freude, Trauer, Zorn, Leichtsinn. Das Publikum lässt sich entführen in eine Welt, die von der eigenen gar nicht so abweicht.

 

Der Augenblick der Wahrheit

 

All das durfte man gestern im Lessingtheater beim Gastspiel des Landestheaters Detmold besichtigen. Auf dem Programm stand Georg Friedrich Händels Barockoper „Serse“ („Xerxes“). Ein blutvolles, buntes Spektakel aus dem prallen Leben. Mit nur auf den ersten Blick seltsamen Charakteren. Und dann passierte das, was ich in meinem Gedicht „Der magische Moment“ (nachzulesen unter www.lyrikjoint.de mit dem Stichwort ´Kunst und Sprache´) in Verse gesetzt habe: Der Augenblick der Wahrheit. Der Perserkönig Serse, ein jugendlicher Despot, der sich seinen Emotionen und Augenblickslaunen lustvoll und bedenkenlos aussetzt, singt das Lied, jawohl, das innig empfundene Lied, nicht die kunstvolle Arie „Ombra mai fu…“ (“ Nie war der Schatten einer Pflanze (Platane) lieblicher, angenehmer und süßer“). Erst zu Beginn der dreiaktigen Oper und dann noch einmal als Resümee seines tragischen Missverständnisses über die Liebe. Wunder der Musik: Dieselben Noten, dieselben Worte, dieselbe überirdische Musik. Und doch, welch ein Unterschied.

 

Maayan Licht verzaubert mit ausdrucksstarkem Sopran

 

Der grandiose Countertenor, nein, präziser, Sopranist Maayan Licht als Serse, noch im Wahne seiner gottähnlichen Allmacht, singt eine Pflanze an. Menschen genügen ihm nicht. Und obwohl das Lied auf der einsamen Bühne, noch bevor die Handlung beginnt, in seiner ganzen Schönheit aufblüht, könnte sein inhaltlicher Effekt am Ende der dreistündigen amourösen Verwicklungen nicht unterschiedlicher sein. Serse hat alle seine Ziele verfehlt. Keine irdische Macht kann eine Liebe zwingen. Eine schmerzhafte Lehre. Statt sich mit der ihm versprochenen Amastre (Dorothee Bienert) zu verbinden, bedrängt er die seinen Bruder Arsamene (Lotte Kortenhaus) liebende Romilda (Stephanie Hershaw). Alle anderen emotionalen Verwicklungen haben sich in Harmonie gelöst. 

 

Ensemble besticht mit sensibler Gestaltung und kunterbunter Dynamik

 

Händel nutzt virtuos alle Ausdrucksmöglichkeiten der Musik. Das bei Barockopern oftmals zu beobachtende statische Absingen der Einzelnummern ist einer kunterbunten Dynamik gewichen. Derbe Scherze wechseln mit temperamentvollen Affekten. Die Duette sprühen vor Esprit und Spielfreude. Dazu trägt die außergewöhnliche Beherrschung der barocken Sangeskultur bei. Statt formelhafter Klischees dominiert liebenswürdige Natürlichkeit. Das gilt auch für das muntere Dirigat von Per-Otto Johansson und sein kultiviert und lebendig aufspielendes Orchester. Das Publikum verfolgt atemlos die komplizierten personalen Strukturen, obwohl die deutschen Untertitel einer höheren Macht zufolge ausfielen. Und dann das grandiose Ende. Darf sich ein auf analytische Präzision geeichter Rezensent seiner tiefen Bewegung hingeben? Ich jedenfalls war angerührt. Da steht der allgewaltige Serse allein auf der Bühne. Desillusioniert. Keine Herrscherpose. Ein gedemütigter Mensch. Und singt seinen Schatten an. Mehr ist ihm nicht geblieben. Doch die liebevolle Musik ist sein Trost. Sie umhüllt ihn mit ihrer zärtlich wärmenden Aura. Und so verklingt ein wunderbares Opernereignis. Sanft, trauernd und alle Facetten des so aufregenden und rätselhaften Lebens umfassend. Beifall wie im Rockpalast. Glückliche Darsteller. Kompliment an Regie und Ausstattung.

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